Bits & Bees – Ein Bienenvolk aus den Augen der IT
Erschienen im KaffeeKlatsch, 12/2016
Bei einem Herbstcampus-Vortrag grübelte ich darüber nach, ob Brewers CAP-Theorem über verteilte Systeme auf das Schwärmen eines Bienenvolkes zutrifft. Sind die beiden Teilvölker vor und nach der Teilung “consistent”, haben also jeweils genau eine Königin? Sind die beiden Völker “available” (handlungs- und überlebensfähig) und “partition tolerant”? Nach diesen Überlegungen erkannte ich durch die Facettenaugen einer Biene durchaus noch weitere Ähnlichkeiten. Folgen Sie mir leise summend in den Stock.
Auf dem Flugbrett, der Landezone vor dem Eingang zum Stock, warten wir kurz auf Matelda, unsere Führerin durch den Stock. Es herrscht viel Verkehr – neben den an- und abfliegenden Bienen haben sich etliche Bienen vor dem Flugloch festgekrallt und schlagen wie wild mit den Flügeln. Weitere Bienen scheinen aber einfach am Flugloch herumzustehen. Da kommt schon Matelda.
“Entschuldigt das Chaos, unser Schwarm ist erst gestern hier eingezogen, daher sind die Räumlichkeiten in unserer neuen Start-up-Zentrale nur provisorisch eingerichtet. Aber wie ihr seht, die Klimaanlage und die Security funktionieren schon."
Sie deutet auf die fächelnden sowie auf die herumlungernden Bienen. Schnell steckt sie uns ein wenig Honig zu. Als wir uns dem Eingang nähern, kommen einige der herumstehenden Biene beunruhigend schnell und zielstrebig auf uns zu. Wächterbienen! Matelda wird nur kurz beschnüffelt, sie hat schon den richtigen Stockgeruch. Wir aber werden von mehreren Wächterbienen umringt und ausgiebig untersucht. Aber nachdem wir den “mitgebrachten” Honig vorzeigen, werden auch wir in den Stock gelassen. Matelda erklärt uns, dass auf diese Weise einzelne Bienen oder Bienengruppen durchaus ihren Stock verlassen und sich so in einen neuen Stock einbetteln können. Das käme zwar relativ selten vor, aber neue Mitarbeiter mit Geschenken weist auch die Natur nicht ab.
Matelda erklärt uns, dass wir ab jetzt nicht mehr von den Wächterbienen belästigt würden, da sie hauptsächlich am Flugloch postiert wären. Ich frage Matelda, ob diese “Perimeter Defense” wie bei den alten Firewalls nicht etwas altmodisch und leicht zu umgehen sei.
“Im Prinzip hast du recht, aber man muss auch das konkrete Threat-Model in unserem Honig-Geschäft berücksichtigen. Tatsächlich sind die Angreifer fast ausschließlich Skript-Kiddies. Die probieren es tatsächlich einfach am Eingang oder an jedem anderen Loch, das sie finden können. Hin und wieder kommt mal eine Denial of Service Attacke in Form von Wespen oder Ameisen. Und wenn innerhalb des Stockes Bienen verletzt werden, können die freiwerdenden Pheromone durchaus auch Wächter herbeirufen. Aber ja, das System ist nicht perfekt – nur gut genug."
Inzwischen haben wir den Eingangsbereich verlassen und sind im Inneren des Stockes angelangt. Eine weite, aber niedrige Halle nimmt die gesamte Grundfläche des Bienenkastens ein. Darüber hängen dicht an dicht die einzelnen Waben in ihren Holzrähmchen. Überall in der Halle und in den Wabengassen drängen sich geschäftige Bienen. Ich denke an mein Büro vor Ort beim Kunden.
Matelda erklärt: “Wir sind zwar erst seit gestern hier, aber dieser Bienenkasten hat eine tolle Vollausstattung mit ausgebauten Bienenwaben." Sie deutet auf die Bienenwaben über uns. “Früher mussten wir beim Einzug in einen hohlen Baumstamm mühsam neue Waben bauen, bevor wir unseren Reiseproviant wieder verstauen konnten. Hier können wir sofort mit dem Nektar-Sammeln loslegen und die Königin kann auch gleich mit dem Brüten beginnen. Da können euer Gründerzentrum oder die Start-up-Subventionen einfach nicht mithalten."
Tatsächlich stecken über uns viele Bienen geschäftig die Köpfe in die Waben und lagern frischen Honig ein. Wir zwängen uns in eine der Wabengassen. Mir sind die acht Millimeter Abstand zwischen zwei Waben einfach zu beengend. Aber Matelda meint:
Dieser Abstand, der Beespace, ist für uns ergonomisch genau richtig. Wir können so leicht von einer Seite der Wabengasse zur anderen wechseln. Bei einem größeren Abstand würden wir anfangen, Querbrücken zwischen den Waben zu bauen. Das mag der Imker gar nicht, wenn er einzelne Waben entnehmen und ansehen will. Kleinere Abstände würden wir mit Propolis-Kittharz abdichten. Und glaub mir, das Zeug ist zwar gesund, klebt aber sprichwörtlich wie Pech und Schwefel. Der Imker muss also wie ein Software-Architekt darauf achten, dass die Komponenten nicht zu lose gekoppelt sind, sonst müssen überflüssige Zwischenstücke gebaut werden, die die Flexibilität doch wieder einschränken. Eine zu enge Kopplung wiederum verhindert überhaupt jede Flexibilität."
Wir klettern weiter zwischen die Waben. Plötzlich macht uns Matelda auf ein zwei Bienen aufmerksam, die sich intensiv befühlern.
Das ist eine Vorkosterin. Sie fordert gerade eine Kundschafterin auf, den Fundort ihres letzten Fluges an die Sammlerinnen weiterzugeben. Gleich seht ihr einen Bienentanz, vielleicht sogar den berühmten Schwänzeltanz."
Tatsächlich beginnt die Kundschafterin auf den Waben eine “8” abzulaufen und dabei am Mittelstück heftig den Hinterleib hin- und herzuschütteln. Ein paar Bienen folgen ständig und halten Körperkontakt. Ein lautes Brummen ist zu hören.
Matelda übersetzt für uns: “Der Tanz deutet auf eine sehr ertragreiche gemischte Blumenwiese in 1,5 km Entfernung und 15 Grad links von der Sonne hin. Das ist zwar etwas weit, aber OK."
Während die Kundschafterin weiter tanzt, eilen die Bienen, die ihren Tanz verfolgt haben, zum Flugloch und neue Bienen nehmen ihren Platz ein.
“Bei dem Tanz spielen unter anderem die Kostproben, Töne, Länge und Neigung der Schwänzelgeraden und die Dauer des Tanzes eine Rolle. Eure Konferenzvorträge weisen zwar Parallelen auf, aber es geht nicht so multimedial und haptisch zu wie bei uns”, erklärt Matelda stolz. “Dabei sollen doch auch bei euch ‘Kundschafter’ die ‘Sammler’ zu neuen Wissensgebieten leiten."
Ich erwidere: “Es gibt z.B. den ‘Dance Your PhD’ Wettbewerb, bei dem Doktoranden ihr Forschungsgebiet als Tanz darbieten. Aber der Vergleich sollte nicht zu den Konferenzvorträgen, sondern zu den Workshops davor gezogen werden."
Matelda summt zustimmend und führt uns weiter. Inzwischen sind wir in der Mitte des Stockes angekommen. Matelda zeigt in einige Waben.
“Siehst du die kleinen Eier am Boden der Waben? Die Königin hat also wieder angefangen zu legen. Gut für sie." Matelda brummt zufrieden.
“Das klingt ja fast wie eine Drohung! Seid ihr nicht auf Gedeih und Verderb an die Königin gebunden? Ist sie nicht DER Single Point of Failure in einem Bienenvolk?", frage ich erstaunt.
“Arbeiterinnen und Königin sind voneinander abhängig und aufeinander angewiesen. Das heißt auch, die Königin muss für neue Brut sorgen und den Stock durch Pheromone steuern. Kann sie ihren Pflichten nicht nachkommen, wird sie von uns getötet. Das kommt bei alten oder verletzten Königinnen durchaus vor”, erwidert Matelda.
Ich bin erschüttert und verblüfft: “Und was passiert dann? Stirbt das Volk?"
“Oh, nein, wir haben dann mehrere Möglichkeiten. Wenn noch Brut vorhanden ist, werden einfach ein paar Larven länger mit Gelee Royale gefüttert. Aus ihnen entstehen dann keine Arbeiterinnen, sondern junge Königinnen. Nach ein paar Hochzeitsflügen kann dann eine solche Königin ihre Pflichten aufnehmen. Aber beruhige dich: Die jetzige Königin ist in keiner akuten Gefahr."
“Einerseits bin ich froh, dass die Natur einfach keinen Single Point of Failure zulässt. Aber gibt es in der IT etwas Vergleichbares? Vom plötzlichen Tod eines Software-Architekten habe ich zum Glück noch nichts gehört”, frage ich dennoch verstört.
Matelda überlegt kurz: “Ein treffender Vergleich ist der Austausch der zentralen Datenbank in einem gewachsenen Informationssystem. Es kommt vor, aber nicht oft. Wenn es vorkommt, dann ist es für alle Beteiligten eine außergewöhnliche Stresssituation, die aber durch Umsicht und Flexibilität bewältigt werden kann. Außerdem haben die Datenbanken jeweils ihre eigenen Stärken und Schwächen – so wie verschiedene Königinnen auch."
Noch immer beunruhigt sehe ich mir eine der Brutzellen etwas genauer an und entdecke neben dem Ei ein kleines, braunes Päckchen. Ich frage Matelda, was das ist.
Matelda holt das Päckchen heraus und sagt übellaunig: “Das ist unser gefährlichster Parasit, die Varroamilbe. Normalerweise kommt sie nicht in diesem frühen Stadium in die Brutzelle, sondern erst später. Sie schädigt unsere Brut und auch erwachsene Bienen. Wir haben einfach kein Gegenmittel gegen diese Biester."
Frustriert drückt Matelda einer vorbeieilenden Schwester die Milbe in die Mandibeln.
“Ich frage mich, warum ihr von ‘Software-Bugs’ also Wanzen sprecht und nicht von ‘Milben’. Sie sind überall, man wird sie kaum noch los und gibt es zu viele, geht das Projekt unter."
Ich nicke mitfühlend. “Ja, aber auch Wanzen können einem Entwickler metaphorisch Blut aussaugen. Glaub mir."
Wir klettern in der Wabengasse weiter nach oben und treffen am Übergang vom Brutbereich zum Futterbereich die Königin des Volkes. Wir werden kurz in das Hof-Zeremonial eingewiesen – nicht zu sehr im Weg stehen reicht völlig aus. Die Königin wird gerade von ein paar jungen Ammenbienen gefüttert. Sie ist zwar etwas größer als ihre Arbeiterinnen, wirkt aber schlanker. Sie scheint tatsächlich eine Krone auf ihrem Rücken zu tragen!
“Hah”, berichtigt mich die Königin, “das Plättchen ist keine Krone. Der Imker hat mir diese Markierung verpasst, damit er mich beim Durchsehen des Volkes einfacher finden kann. Anhand der Farbe weiß er auch, seit wann ich im Dienst bin. Ich wäre dieses Ding gerne los, aber es klebt zu fest."
Ich denke kurz über unser “Plättchen” im Scheckkartenformat und deren “Dienstalter”-Markierungen nach – farblose Bezeichnungen wie “Senior Lead Developer” in kleiner dezenter Schrift können es nicht mit diesem schönen Blau aufnehmen.
Die Unterhaltung wendet sich den neuen Räumlichkeiten zu.
“Wie Matelda euch schon erzählt hat, sind wir erst gestern hier eingezogen. Unser alter Stock ist ein paar Kilometer entfernt und die Tracht, also der Honigertrag, ist dort sehr gut. Also konnte ich das Bienenvolk stark vergrößern und schließlich wurde es dort zu eng. Daher habe ich einen Teil der flugfähigen Bienen um mich geschart und bin dann aus dem alten Stock geschwärmt. Auch hier am neuen Stand gibt es genug Nektar und Pollen, aber wir müssen erstmal viel Arbeit in den Bau von Waben und in neue Brut stecken."
“Ist also ein Schwarm mit dem Fork eines Software-Projektes vergleichbar?", will ich wissen. “In beiden Fällen gibt es zuerst Unzufriedenheit, den Drang, Neues aufzubauen und schließlich eine Teilung."
Die Königin erwidert: “Das stimmt schon, aber bei einem Fork bleibt normalerweise die alte Riege am alten Ort und die neue Leitung muss sich auf den Weg machen. Bei uns ist das genau umgekehrt. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist, dass die beiden Teams sich nicht gut vertragen und oft genug gibt es böses Blut vor dem Auszug. Bei uns sorgt die ausziehende alte Königin dafür, dass es dem alten Volk weiterhin gut geht – ich habe also ein paar Eier für neue Königinnen gelegt, allgemein viel Brut für neue Arbeiterinnen gelegt und weit mehr als genug Vorräte für den Rest des Jahres zurückgelassen. Es ist also eine Trennung im Guten. Insgesamt ist ein Vergleich mit einem Start-up-Unternehmen angemessener."
“Aber nimmt der Imker euch und dem alten Volk nicht all diese Vorräte sowieso wieder weg?", frage ich. “Das stimmt zwar, aber ich betrachte ihn eher als Vertriebskanal für unsere Produkte. Im Gegenzug dazu bekommen wir ja z.B. diese schöne, sichere Behausung, medizinische Versorgung und als Wintervorrat soviel Zuckerwasser wie nötig. Damit können wir im Gegensatz zu früher problemlos überwintern."
Wir sprechen noch kurz über ihre Ziele des neuen Start-ups – weniger lausigen Waldhonig dafür mehr Blütenhonig –, bevor mich Matelda wieder aus dem Stock führt.